„Die Wände der Eingangshalle waren von Farbbomben bunt gefärbt“
20.08.2025
Alumni der LMU im Porträt: Der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer spricht im Interview über seine Studienzeit an der LMU, Risikokompetenz und digitale Selbstbestimmung.
20.08.2025
Alumni der LMU im Porträt: Der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer spricht im Interview über seine Studienzeit an der LMU, Risikokompetenz und digitale Selbstbestimmung.
Gerd Gigerenzer ist einer der renommiertesten Psychologen in Deutschland. Der LMU-Alumnus war unter anderem Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und ist aktuell Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Im Interview spricht der 77-Jährige über seine Studienzeit an der LMU während der 68er-Bewegung, den Optimierungsdruck der Social-Media-Generation und wie Künstliche Intelligenz unser Wissen manipulieren kann.
Herr Gigerenzer, Sie sind 77 und nicht nur Ihre Bücher zeigen: In der digitalen Welt sind Sie oft besser zu Hause als viele Digital Natives. Wie gelingt Ihnen das?
Gerd Gigerenzer: Ich bin von Natur aus neugierig. Und da ich neben Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) auch noch Statistik studiert habe, fällt es mir leichter, viele Phänomene der digitalen Welt zu durchschauen – etwa ChatGPT: eine statistische Maschine.
Das Studium habe ich mir als Jazzmusiker finanziert.Gerd Gigerenzer
Wie unterscheidet sich die Ausbildung im Vergleich zu heute?
Zu meiner Zeit war das Psychologie-Studium sehr frei und Studierende wurden wie Erwachsene behandelt. Es gab kaum Vorgaben, welche Literatur wir lesen sollten. Diese Freiheit war für mich eine willkommene Herausforderung; sie hat mir geholfen, unabhängig zu denken. Andere hingegen kamen mit der Freiheit weniger gut zurecht. Aber wenn man neugierig ist, findet man seinen Weg selbst. Später habe ich viele Jahre in den USA gelebt und gelehrt. Dort ist das Studium meist stärker verschult und man nennt die Studierenden entsprechend auch „Kids“.
Sie haben an der LMU promoviert und sich habilitiert. Wie haben Sie Ihre Studienzeit in Erinnerung?
Als ich 1969 zum ersten Mal die LMU betrat, spielte der Kommunarde Fritz Teufel gerade mit politischen Freunden Fußball in der Eingangshalle – und die Wände waren von Farbbomben bunt gefärbt. Es war die Zeit der marxistischen Gruppen, viele Studierende waren politisch aktiv. Das Geld fürs Studium musste ich mir selbst verdienen – meine Eltern waren einfache Leute. Ich finanzierte mir meinen Lebensunterhalt als Jazzmusiker, unter anderem durch einen Werbespot für den ersten Volkswagen Golf, der in Deutschland und den USA lief (https://www.youtube.com/watch?v=Pxss-xGI0rw). Daher war für mich die Musik zunächst die sichere Option und eine akademische Karriere ein ungewisses Wagnis. Doch ich habe das Risiko gewählt und mich für die Wissenschaft entschieden.
Ansonsten hätten Sie wohl nicht Ihre Frau Lorraine Daston kennengelernt, die eine renommierte Wissenschaftshistorikerin ist.
Wir haben uns 1982 zufällig in Bielefeld kennengelernt – am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, bei einem einjährigen Workshop über Zufall und Wahrscheinlichkeit in Wissenschaft und Alltag. Es ging darum, wie der Zufall unser Denken in Physik, Sozialwissenschaften und sogar Sport verändert hat – für manche sind Statistiken heute wichtiger als das Spiel selbst. Durch meine Frau habe ich gelernt, die Geschichte der Wissenschaften zu schätzen und kritisch zu hinterfragen, warum wir bestimmte Methoden verwenden und bestimmte Fragen für wichtig halten. Die historische Perspektive war damals in den Sozialwissenschaften kaum entwickelt – und es ist auch heute weitgehend so.
Einmal im Monat werden im Newsroom bekannte und renommierte Alumni der LMU vorgestellt. Wenn Sie selbst eine bekannte Alumna oder einen bekannten Alumnus kennen, melden Sie sich gerne bei uns.
Im Studium stellt jede Entscheidung die Weichen für das zukünftige Leben. Viele fühlen sich davon zunehmend überfordert.
Das Gefühl der Überforderung ist keineswegs neu, doch technologische Erfindungen wie Empfehlungssysteme verstärken es erheblich. Früher konzentrierte man sich etwa bei der Partnersuche auf einige wenige Menschen und versuchte, sie persönlich kennenzulernen. Heute wird man durch Apps wie Tinder mit Hunderten potenziellen Partnern konfrontiert – und das überfordert viele. Wir nennen das FOBO: Fear Of Better Options. Der permanente Versuch, alles zu optimieren und sich nur mit dem vermeintlich Besten zufriedenzugeben, ist ein sicheres Rezept für Unzufriedenheit.
Sie plädieren dafür, mehr auf die Intuition zu hören.
Als ich mich zwischen einer Karriere als Musiker oder als Professor entscheiden musste, ließ sich die Zukunft nicht berechnen – ich stand vor einer Entscheidung unter Unsicherheit. In so einer Situation braucht es Intuition: eine Form von unbewusster Intelligenz. Doch Intuition gelingt dann am besten, wenn man in einem Bereich über viel Erfahrung verfügt.
Will ich mein Leben selbst in die Hand nehmen oder mich unterhalten lassen?Gerd Gigerenzer
Kriege, Krisen und politische Polarisierung: Besonders junge Menschen blicken besorgt in die Zukunft. Viele verzichten daher auf Nachrichten. Eine gute Idee?
Den Kopf in den Sand zu stecken – nein. Natürlich leben wir in schwierigen Zeiten. Aber als ich in den 70er-Jahren an der LMU war, herrschte der Kalte Krieg und wir mussten jederzeit mit einem nuklearen Ende rechnen. Meine Mutter war gerade 17, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Mein Großvater kämpfte als junger Mann im Ersten Weltkrieg in Frankreich – und wachte sein Leben lang nachts mit Alpträumen auf. Eine unbeschwerte Jugend? Die hatten nur wenige. Am Ende stellt sich für uns alle die Frage: Will ich mein Leben selbst in die Hand nehmen oder mich einfach nur unterhalten lassen?
Verstärken Social Media die Angst?
Das Problem sind nicht die sozialen Medien, sondern die Geschäftsmodelle der großen Tech-Konzerne. 2004 war Facebook eine ziemlich entspannte Angelegenheit: Man schaute gelegentlich auf den Homepages seiner Freunde vorbei. Das war aber den Werbetreibenden zu wenig Aktivität – und so wurde der Newsfeed eingeführt. Hunderttausende Nutzer protestierten, denn der Newsfeed machte private Nachrichten zum Massenkonsum und zum Ziel von Spott und Hass. Doch er setzte sich durch. Die Privatsphäre wurde durch den Wunsch ersetzt, möglichst viele Likes zu bekommen. Diese Mechanismen kennen wir aus der experimentellen Psychologie – die klassische und operante Konditionierung. Wegen der Dopaminausschüttung swipen und scrollen wir, ohne hinterher zu wissen, was wir eigentlich getan haben. Ein massiver Zeit- und Kontrollverlust. So wird eine ganze Generation konditioniert. Wenn Nutzer statt mit ihrer Zeit direkt mit Geld bezahlen würden – ohne den Umweg über die Werbetreibenden –, wären soziale Medien wahrscheinlich wieder sozialer und entspannter.
Bei der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen Sie regelmäßig mit drei Kolleginnen und Kollegen publizierte Zahlen. Welche hat Sie besonders geärgert?
Wir analysieren Medienberichte, in denen Daten bewusst oder aus Unwissen falsch dargestellt werden. So behauptete etwa Elon Musk kürzlich, dass 79 Prozent aller Asylbewerber Urlaub in ihrer Heimat machen würden. Die Zahl bezog sich jedoch auf Menschen, die in den letzten 80 Jahren nach Schweden gezogen sind, meist in den 70er-Jahren – es war keine Studie über Asylbewerber. Musk versuchte Empörung zu entfachen, und er war damit erfolgreich. Auch Frauen werden beim Thema Mammographie-Screening seit Jahren in die Irre geführt. Studien zeigen: Das Screening verlängert das Leben nicht, kann aber zu unnötigen Ängsten, Biopsien und Brustoperationen führen. Dennoch wird es als Lebensretter beworben – Radiologen, Kliniken und die Gerätehersteller verdienen jährlich Milliarden daran.
Kann Künstliche Intelligenz helfen, Fakten rationaler zu bewerten?
KI ist immer von den Menschen abhängig, die sie entwickeln und kontrollieren. Ein Beispiel: Elon Musk hat kürzlich behauptet, in Südafrika finde ein Genozid gegen Weiße statt. Daraufhin fragten findige Nutzer seinen Chatbot Grok, ob denn das stimme. Grok widersprach ihm anhand von öffentlichen Statistiken. Doch schon am nächsten Tag behauptete Grok das Gegenteil. Das zeigt, wie leicht sich Chatbots manipulieren lassen – von jenen, die sie besitzen. Wir sollten uns daher nicht von der Geschichte einer allmächtigen Superintelligenz ins Bockshorn jagen lassen, die uns Menschen gefährlich werden könnte. Solche Erzählungen dienen oft dazu, Aufmerksamkeit und Angst zu erzeugen und von den eigentlichen Problemen abzulenken. Die reale Gefahr geht nicht von der KI aus, sondern von den ultrareichen Milliardären, die sie kontrollieren.
Sie wurden mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, das schweizerische Gottlieb Duttweiler Institut zählt Sie zu den 100 einflussreichsten Denkern weltweit. Haben Sie nicht darüber nachgedacht, Ihren wohlverdienten Ruhestand auszukosten?
Ich genieße meine Arbeit – sie macht mir Freude. Und ich verbringe auch viel Zeit mit meiner Familie, gehe meinen Hobbys nach und lasse mich nicht von Bildschirmen dominieren. Vor vielen Jahren habe ich meinen Fernseher verschenkt, und soziale Medien nutze ich fast ausschließlich beruflich. Das spart nicht nur Zeit, sondern lässt auch Raum für das, was wirklich zählt. Jeder hat es selbst in der Hand, ob er sich weiterbildet oder sich bloß unterhalten lässt.
Zur Person: Gerd Gigerenzer studierte, promovierte und habilitierte sich Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre an der LMU. Von 1984 bis 1990 war er Professor für Psychologie an der Universität Konstanz. Nach mehreren Jahren an den Universitäten Salzburg und Chicago wechselte Gigerenzer 1995 als Direktor an das Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München, bevor er 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin wurde. 2008 übernahm er zusätzlich die Leitung des neu gegründeten Harding-Zentrums für Risikokompetenz in Berlin, das seit 2020 zur Universität Potsdam gehört. Seit Anfang 2024 ist er Vizepräsident des Europäischen Forschungsrats (ERC).